Der Tag beginnt voll grauester Gräue. Selbst um 10 Uhr habe ich noch das Licht an, weil ich sonst nichts sähe. Beim Lesen auf dem Klo dann der erste Lichtblick: Seit geraumer Zeit lese ich an diesem Ort die sechste verbesserte 1964er Auflage der „Gerichtlichen Medizin“ von S. P. Berg aus der Reihe „Sammlung Medizinischer Grundrisse“. Das Büchlein beginnt mit der rechtlichen Seite des Themas und bedient sich dabei der üblichen jurisprudentischen Vergewaltigung meiner Muttersprache. Ab Seite 61 (Sittlichkeitsdelikte) geht es dann sanft in medizinaltechnisches Geschwurbel über. Ich bin schon drauf und dran das Werk beiseite zu legen, da es dem Sinn der Darmentspannung nicht zuträglich ist, da lese ich ein Wort, das mich schlagartig begeistert: ‚Kopfschwartenhaematom‘! Eine Zunft, die so ein Wort erschafft kann nicht grundübel sein. Ich lese weiter: „Kopfschwartenhaematome gehen oft von Schädelbrüchen aus und lassen, wenn sie flächenhaft zwischen Galea und Periost der frakturierten Kalotte liegen, keine Lokalisation der Gewalteinwirkung zu.“ Darunter kann ich mir nicht so recht was vorstellen, so daß ich damit liebäugele, das mal an einem Probanden zu exerzieren. Zunächst einmal hilft die Lektüre aber doch beim Scheißen.
Gegen Mittag starte ich eine meiner spärlichen Autofahrten. Roland muß seinen Gansbräter zurückbekommen, und Heba und Hermann können das Marbellachen besser gebrauchen, sie müssen ihre Jüngste wieder zum Arzt fahren. Das Kind hat vorige Woche einen Beinbruch erlitten, und nun hat sie den Gips schon das erste Mal klein gespielt. Der Weg nach Kreuzberg ist nur ein kurzes Stück, ausreichend aber, um mir mit dem Urwahn ungetakteter Ampelschaltungen, bei wohlgemerkt niedrigem Verkehrsaufkommen, eine gewisse Cholerik zu entlocken. Kann man im Westen der Stadt vielleicht zwei, manchmal drei Ampeln in einer Fahrt zu schaffen, herrscht im Ostteil die pure Boshaftigkeit des Bolschewismus. Selbst in vorderster Reihe an einer Lichtzeichenanlage gestartet schafft man es nie, nie, nie, nie, wirklich nie nimmer nicht, die nächste Ampel bei Grün zu schaffen, völlig gleichgültig welche Geschwindigkeit man wählt. So stehen mir noch vor der Spreeüberquerung die Tränen in den Augen.
Dafür werde ich in Kreuzberg wie ein Held empfangen und Hebas Spaghetti Bolognese trösten mich. Zurück geh ich zu Fuß. Bewegung schadet nicht und auch die Wolkendecke ist dieser Ansicht. Sie schiebt sich in meinem Rücken beiseite und läßt der tief stehenden Abendsonne Raum für ein lichtstarkes Spektakel. In gleißendem Aberwitz ballert sie ihre prallgelben Strahlen auf die Stadt. Bunte Fassaden können nicht anders, müssen mit ihrer Farbigkeit protzen und das riesige Jeff-Koons-Plakat am Helsingforser Platz schleudert allen verfügbaren Glanz auf mich.
Schnell wie der Wind sause ich nach Haus, greife mir die Kamera. Am Frankfurter Tor müsste es jetzt noch genug Schimmer für ein schönes Bildchen haben. Und ja doch, wie wahr. Fix in den vierten Stock des 2.-Hand-Kaufhauses am dortigen Platz gehechtet und siehe da:
Mit mir und der Welt zufrieden schlendere ich heim. Solch ein Licht gibt es bevorzugt im Norden!
Nur das Kopfschwartenhaematom geht mir immer noch nicht aus dem Sinn.
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