Donnerstag, 27. November 2008

Norden will morden

Der Tag beginnt voll grauester Gräue. Selbst um 10 Uhr habe ich noch das Licht an, weil ich sonst nichts sähe. Beim Lesen auf dem Klo dann der erste Lichtblick: Seit geraumer Zeit lese ich an diesem Ort die sechste verbesserte 1964er Auflage der „Gerichtlichen Medizin“ von S. P. Berg aus der Reihe „Sammlung Medizinischer Grundrisse“. Das Büchlein beginnt mit der rechtlichen Seite des Themas und bedient sich dabei der üblichen jurisprudentischen Vergewaltigung meiner Muttersprache. Ab Seite 61 (Sittlichkeitsdelikte) geht es dann sanft in medizinaltechnisches Geschwurbel über. Ich bin schon drauf und dran das Werk beiseite zu legen, da es dem Sinn der Darmentspannung nicht zuträglich ist, da lese ich ein Wort, das mich schlagartig begeistert: ‚Kopfschwartenhaematom‘! Eine Zunft, die so ein Wort erschafft kann nicht grundübel sein. Ich lese weiter: „Kopfschwartenhaematome gehen oft von Schädelbrüchen aus und lassen, wenn sie flächenhaft zwischen Galea und Periost der frakturierten Kalotte liegen, keine Lokalisation der Gewalteinwirkung zu.“ Darunter kann ich mir nicht so recht was vorstellen, so daß ich damit liebäugele, das mal an einem Probanden zu exerzieren. Zunächst einmal hilft die Lektüre aber doch beim Scheißen.

Gegen Mittag starte ich eine meiner spärlichen Autofahrten. Roland muß seinen Gansbräter zurückbekommen, und Heba und Hermann können das Marbellachen besser gebrauchen, sie müssen ihre Jüngste wieder zum Arzt fahren. Das Kind hat vorige Woche einen Beinbruch erlitten, und nun hat sie den Gips schon das erste Mal klein gespielt. Der Weg nach Kreuzberg ist nur ein kurzes Stück, ausreichend aber, um mir mit dem Urwahn ungetakteter Ampelschaltungen, bei wohlgemerkt niedrigem Verkehrsaufkommen, eine gewisse Cholerik zu entlocken. Kann man im Westen der Stadt vielleicht zwei, manchmal drei Ampeln in einer Fahrt zu schaffen, herrscht im Ostteil die pure Boshaftigkeit des Bolschewismus. Selbst in vorderster Reihe an einer Lichtzeichenanlage gestartet schafft man es nie, nie, nie, nie, wirklich nie nimmer nicht, die nächste Ampel bei Grün zu schaffen, völlig gleichgültig welche Geschwindigkeit man wählt. So stehen mir noch vor der Spreeüberquerung die Tränen in den Augen.

Dafür werde ich in Kreuzberg wie ein Held empfangen und Hebas Spaghetti Bolognese trösten mich. Zurück geh ich zu Fuß. Bewegung schadet nicht und auch die Wolkendecke ist dieser Ansicht. Sie schiebt sich in meinem Rücken beiseite und läßt der tief stehenden Abendsonne Raum für ein lichtstarkes Spektakel. In gleißendem Aberwitz ballert sie ihre prallgelben Strahlen auf die Stadt. Bunte Fassaden können nicht anders, müssen mit ihrer Farbigkeit protzen und das riesige Jeff-Koons-Plakat am Helsingforser Platz schleudert allen verfügbaren Glanz auf mich.

Schnell wie der Wind sause ich nach Haus, greife mir die Kamera. Am Frankfurter Tor müsste es jetzt noch genug Schimmer für ein schönes Bildchen haben. Und ja doch, wie wahr. Fix in den vierten Stock des 2.-Hand-Kaufhauses am dortigen Platz gehechtet und siehe da:


Mit mir und der Welt zufrieden schlendere ich heim. Solch ein Licht gibt es bevorzugt im Norden!

Nur das Kopfschwartenhaematom geht mir immer noch nicht aus dem Sinn.

Montag, 24. November 2008

Kennzeichen OPR

Habe ich mich Vorgestern noch frustriert über das ach so Normale hiesiger Museen mokiert, so muß ich heute einen kleinen Schritt zurück machen. Aber nur einen kleinen.

Letztens rief Marcus aus Moskau an, er wäre am 22. wieder zurück und würde gern einen Ausflug ins Umland machen und ich solle doch mal ein Ziel aussuchen. Das fällt nicht besonders schwer, denn im Internet, welches nicht nur eine gigantische Wichsvorlage ist, kann man auf einer Seite des Museumsverbands Brandenburg sich nach Themen oder Landkreisen ein passendes Objekt aussuchen. Da gibt es etliche Heimatmuseen, Technikmuseen inklusiv Agrar- und Feuerwehrthemen und was weiß ich noch alles. Meine Wahl fiel diesmal aber auf das Lügenmuseum in Kyritz an der Knatter, etwas mehr als 100 km nordwestlich.

Die Sonne lacht, eisiger Wind aus Nord, der Elch, beladen mit Marcus, Thomas, Jack und mir, schnurrt behänd durchs platte Brandenburg. An der Abfahrt 22/Neuruppin fahren wir von der Autobahn ab durch einen Weiler namens Dabergotz. Dort müssen wir feststellen, daß es sich hier nicht um eine der üblichen überrenovierten Geisterstädte Ostdeutschlands handelt. Gut, die Straße ist leidlich gut asphaltiert, doch die Bürgersteige und auch die Hausfassaden befinden sich in durchaus ehrwürdigem DDR-Standard, und nun steht die Frage im Raum: „Was haben die mit unserem schönen Soli gemacht?“ Wird wohl der Bürgermeister in Malle durchgebracht haben.

Die anderen durchfahrenen Dörfer beruhigen uns aber wieder. Da ist alles in Außenanstrich und Gehwegpflasterung investiert. Schnieke neue Tankstellen künden von blühenden Landschaften. Was ist eigentlich aus der Affäre Elf-Aquitaine geworden? Steht Dr. Birne eigentlich immer noch über dem Gesetz?

Anstatt Kirchweih

Bald erreichen wir das schöne Städtchen, fahren einmal um den Ortskern rum, parken am Marktplatz und umrunden die Kirche zu Fuß, was fünf Minuten dauert, dann wird uns zu kalt, Marcus deliriert bereits zum siebten Male von Braten, Klößen und Rotkohl. Nach Norden wieder raus und nach weiteren fünf Kilometern links ab und wir stehen vor einem alten Gutshaus, das ein Prenzelberger Abweichler der 80er Jahre in den Zustand eines Lügenmuseums überführt hat. Er bittet uns rein und stellt sich unseren Fragen, denn keiner weiß natürlich nicht, was die Lüge im Museum zu suchen hat. Ist sie bereits ähnlich bedroht wie die Arbeit, wie uns ein Hamburger Pendant nahelegt? Oder ähnlich fragil wie die Kunst?

„Keineswegs“, beruhigt uns Reinhard Zabka, der Intendant. Sie erfreue sich bester Gesundheit, was man allein daran sähe, daß im offiziellen Ortsnamen ‚Kyritz an der Knatter‘ ein Gewässer vorkäme, das es gar nicht gibt. Und wirklich: Einen Fluß dieses Namens gibt es hier nicht. Nicht mal ein Bächlein. Verschiedene befragte Einheimische redeten sich auf geräuschvolle Windmühlen hinaus, die es mal vor Urzeiten hier gab.

Das Museum selber ist vollgestopft mit Zeug. Alles mögliche an Krimskrams, neu miteinander kombiniert (z.B. präparierter Hechtkopf mit Geweih), vieles bewegt sich und macht Geräusche, manches ist banal (eine vergoldete Pommesschale mit dem Satz: Die Titanic hat es nie gegeben), alles ein wenig Dada mit einem großen Schuß ‚Der-Hippie-war–in-Indien-und-hat-zu-viel-gekifft‘. Was soll’s. Mir gefällt es, ich habe Spaß an der Betrachtung der sinnfreien Basteleien. Leider sind die Ausstellungsräume recht kühl, was ein Verweilen zum Durchhalten werden läßt. In dieser Hinsicht ist es gut, daß wir fast zur selben Zeit durch sind, da meine beiden menschlichen Begleiter sich eher abfällig über diesen „Hippiekram“ und die „vollgestopften Räume“ echauffieren, mit denen man höchstens „Schwabenmüttern aus dem Prenzlauer Berg“ imprägnieren könnte. Jack hält sich wie gewohnt zurück.

Im Museum selbst

Auf dem anschließenden Rundgang um den kleinen See entspinnt sich ein Disput um den Wert dieser kulturellen Einrichtung, die ich vehement verteidige, umso mehr mich meine Freunde in die geistige Ecke Prenzelberger Schwabenmütter drängen. Zurück am Auto schlägt Marcus einen Umweg über Stölln vor, wo Otto Lilienthal vor 102 Jahren bei einem seiner Gleitflüge den Tod fand. Da gäbe es auch sowas wie ein Museum, also das wäre wirklich was für Jungs. Wir anderen rätseln, was das wohl sein kann, da fahren wir schon und Marcus hat wieder Bratenfantasien.

Eine halbe Stunde später, kurz hinter Friesack, biegen wir in eine kleine Sackgasse ein und hinter zwei Einfamilienhäusern steht wahrhaftig eine ausgewachsene Iljuschin IL-62 (Das ist ein sowjetisches Passagierflugzeug mit vier Düsen am Heck) in Interflug Bemalung auf einem Hügel. Wir schauen uns das Ding an, man kann sogar rein und Probe sitzen. Das Gestühl ist sowjetisch hart, die Tabletts am Vordersitz aus scharfkantigem Metall und die Beinfreiheit hat Erste-Klasse-Niveau. In dem zum Standesamt umgebauten Raum gibt es einen Film über den Herflug anzusehen. Demnach hat im Oktober 1989 ein wahrhaftig tollkühner Ost-Pilot das Trum auf dem nahen Todesacker vom Otto gelandet, damit es hier ausgestellt werden kann. War nicht alles schlecht im Sozialismus.

Internationales Flair

Grobe Bahn

Auf dem Weg zur nahegelegenen Gaststätte noch rasch ein Blick in Nachbars Garten: Eine große, liebevoll grobschlächtige Eisenbahnanlage ist dort in Eigenbau entstanden und sicherlich einen weiteren Besuch im Sommer wert. Nach dem anschließenden Mahl, das nicht nur Marcus ganztägig impertinenten Vortrag von einem würdigen Sonntagsessen entsprach, sondern alle befriedigte, machen wir uns auf den Rückweg über die alte Transitstrecke Hamburg-Berlin, die gute B5. Wir passieren Ribbeck, welches mit halböffentlichen Fontane-Einrichtungen wie besessen rumprotzt.

Es ist bereits dunkel, wenig Verkehr, ab und zu riecht es aus Schornsteinen nach Braunkohle, dann kommt richtiges Ostfeeling auf. Auf Berlin zu wird der Verkehr dichter, und als dann doch recht unvermittelt die Stadtgrenze erreicht ist, versichern wir uns mit wohligem Schauer alter Transitstreckengefühle in den 80ern.



Samstag, 22. November 2008

Der Westen ist weiß

Als ich aufstehe verspricht der Tag gut zu werden; die Sonne zeigt sich, Schnee ist gefallen: 5 mm. Kalt und klar wird die Luft sein. Ich reiße probehalber das Fenster auf und vergewissere mich. Jawoll! Ich beschließe nach dem Frühstück mit dem öffentlichen Nahverkehr irgendwo hin zu fahren. Mir schwebt Zehlendorf vor, und noch während ich Brote schmiere und verzehre, dabei nebenbei in der Zeitung lese, was die Welt wieder an hochbezahltem Kinderkram so treibt, rufe ich diverse Speicher in meinem Kopf nach Opportunitäten ab. Die Wahl fällt auf das Alliierten-Museum in der Dahlemer Clayallee.

Für die Fahrt dahin brauche ich drei U-Bahnlinien und 1 Stunde und 12 Minuten von Tür zu Tür. Dabei fällt mir auf, daß die Warnhinweise beim besteigen und verlassen der Züge von einer betont deeskalierenden weiblichen Stimme, fast sotto voce, vom Band charmiert werden. Ich erinnere mich beinah sehnsüchtig an meine Berlin-Besuche in den 80ern, als dies noch von einem am jeweiligen Bahnhof stationierten BVG-Angestellten in unnachahmlicher Aufsehermanier durch minderwertige Lautsprecher geknarzt wurde: „Z’rrrückbleim!“. Und wehe dem, der meinte, doch noch hinein huschen zu können: „Z’RRRÜCKBLEIM HA’ICK JESACHT!!!“ und ich wußte dann immer sofort, welch tragische Geschichte mein Vaterland zu bewältigen hat.

Der Museumseintritt ist frei, die Ausstellung ein Wust von Militaria der Westmächte und ein Haufen persönlicher Erinnerungsstücke damals Anwesender. Es ist alles schön anzusehen, ich finde das auch immer ganz niedlich. Ich hatte mir aber schon ein wenig mehr Erklärung über den einen oder anderen Sachverhalt gewünscht. Warum z.B. der Franzmann eine Siegermacht war? Hätten nicht Holländer, Belgier, Polen, Tschechoslowaken, Griechen und Jugos ähnliche Ansprüche anmelden können? Kein Kommentar. Stattdessen eine Menge Uniformen, Zeitungs- und Wochenschauausschnitte und große Wandkarten und stets die Betonung, die Frontstadt der freien Welt mit ungeheurem Mut vor den gierigen Klauen der Sowjetmenschen gerettet zu haben. Ich habe nix dagegen im Westen aufgewachsen zu sein, schließlich war meine eigene britische Besatzung vergleichsweise diskret, aber ganz selbstlos war das wohl nicht. Davon zeugen auch die Exponate, die sich mit Tätigkeiten der verschiedenen Geheimdienste und deren Spielplätze befassen.

Das sind die Pferde, die die Mauer niedergerannt haben. Im Hintergrund das Museum der Alliierten.

Nach etwa einer ¾ Stunde verlasse ich den trauten Hort und stapfe durch ein bisserl Schneematsch zur Bushalte, wo ich den 110er besteige, eine Art Luxuslinie. Er fährt bis zum Bahnhof Zoo, zuerst durchs schnieke Dahlem, dann mitten hinein nach Wilmersdorf, wo ich hoffe, dessen berüchtigtste Bewohnergruppe, marodierende Witwengangs, zu Gesicht zu bekommen. Doch lediglich eine einzige verdächtige Person kann ich ausmachen, die sich beim besteigen des Busses mit dem hervorzeigen eines Schwerbehindertenausweises dicke tun will. Die anderen Seniorenmobster hält wohl das Rheuma vor der Heizung. Noch mal Glück gehabt!

Das letzte Stück vorm Zoo gehört dem Ku’damm, immer noch eine nette Luxusstraße, wo shoppen bestimmt Spaß macht. Am Zoo dann hüpfe ich kurz entschlossen in der 100er, ein Doppeldecker zum Alex, der auch jetzt halbwegs voller Touristen ist, weltweit meine Lieblingsbevölkerungsgruppe. Auf dem Oberdeck fallen einige Chinesen auf, die mit entblößten Objektiven von einem Sitz zum anderen hüpfen, um ja kein Motiv zu verpassen. Nach zwei Stops werden sie von einer Gruppe Hebräer in ihrem Tun eingeschränkt. Diese wollen natürlich auch sitzen, was die Bewegungsfreiheit der Asiaten einschränkt. Doch sie arrangieren sich und nun wird munter von beiden Parteien nach allen Seiten geknipst, was das Zeug hält. Wahrscheinlich kann man dann etliche dieser Motive auf Google Earth wiedersehen, wo sich an neuralgischen Punkten eines Satellitenbildes hunderte blauer Kästchen drängeln, die alle das gleiche zeigen. Ein Hoch auf die digitale Vermüllung der Welt.

Ab dem Reichstag geht es etwas friedlicher zu, nur noch gelegentlich höre ich erhabenes Raunen („Ooohaah, Blandenbulgel Tol!“). Nur drei shoppingwütige Damen in ihren Vierzigern fallen auf. In jedem dritten Satz, die ausnahmslos von Konsumtempeln handeln, vergewissern sie sich ihrer Vernunft („Wir haben aber jetzt wirklich schöne Sachen gekauft.“). Allerdings werden sie an der Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße unruhig und verlassen sehr aufgeregt das Fahrzeug. Am Alex laufe ich über den Zigsten Weihnachtsmarkt fix zur U-Bahn. Ich will jetzt heim. War doch ganz ergiebig, aber ich bin etwas gnatterig, da ich die überbordende Absurdität südamerikanischer Museen vermisse. Das ist doch alles ganz schön normal hier.

Freitag, 21. November 2008

Der Calvinistische Albtraum

Die letzten beiden Tage ist nicht viel passiert. Ich habe einfach kaum was unternommen. Da ist zu gutem Teil meinem Geburtstag zu verdanken oder besser der mit Alkoholabusus verbundenen Feier, die von den Anwesenden als gelungener bunter Abend bezeichnet wurde, während dessen unter anderem Hermann so leidenschaftlich von einer Idee gepackt war, die er mit einer solchen Vehemenz vortrug, daß man mit keiner Frage auch nur halb dazwischen kam, geschweige denn einer Anmerkung, bis der nette Herr Rintsche von schräg unten kam und sich über die Lautstärke beschwerte oder war es schon vorher? Weiß nicht mehr, auch egal; ich hatte jedenfalls schon ganz vergessen, wie gut er sowas kann.

Meine kleine Kreuzung bei Tag...

Ein anderer Umstand war das Wetter. Grau, kalt, Regen, Sturm und heute gar Andeutung von Schnee. Ich stehe da also in meinem bräsigen Brägen am Fenster und schaue fast den ganzen Tag ungeniert aus dem Fenster. Abends mit Licht. Unterbrochen nur von Einkaufsgängen, die ich mit großem Wagemut weiträumig gestalte, damit ich an der frischen Luft bin. Dabei ist sogar im sonst so geschäftigen Friedrichshain kaum eine Sau auf der Straße. Und wenn, dann wird gehastet wie auf der Flucht vorm Iwan. Ich hingegen gucke mir fast jedes Schaufenster an. Es gibt hier sogar einen Laden, der nix als Ohrringe hat, und der ist nicht mal klein. Bemerkenswert auch ein Frisör im Einrichtungsstil der 50er Jahre, aber mit bis zum gehtnichtmehr gepirct und gepaikertem Personal. Gleich zwo Häuser weiter noch so einer.

Zurück gehe ich über die Boxhagener, an deren Ende ich einen Fleischer weiß, der, wie viele in Ost-Berlin, ihre Ware noch selber herstellen und auch einen kleinen Imbißverkauf haben. Als ich das Ladenlokal betrete ist auch hier gähnende Leere vor der Theke, dahinter immerhin einiges an totem Tier, voran dicke Klötze selbstgemachten Corned Beefs, dessen Köstlichkeit ich schon kenne. Ich ordere ein Stück davon und auch von seiner guten Leberwurst. Da ich ins Gespräch kommen will, frage ich ihn nach der Geschichte des Geschäfts und wie es Berliner Art ist, redet der Fleischermeister drauf los. Ich habe ob des Schwalls und meiner Gehirnerweichung leider nicht mehr alle Daten parat; gewiss ist auf jeden Fall, daß das Familienunternehmen die Weimarer Republik, die Nazis und die Realsozialisten überlebt hat, mit den jetzigen Zeiten aber so seine Schwierigkeiten hat, was aber mitnichten an der Finanzkrise läge, sondern an den ganzen jungen Leuten hier im Viertel, die große Probleme hätten, Lebensmittel per Wärmezufuhr zu einem genüsslichen Mahl zu verarbeiten und dann obendrein dieses als solches zu erkennen und ihrem „Stoffwechsel“ (Originalzitat) zuzuführen. Die würden lieber zu McDoof gehen oder irgendeinem anderen Sandwichladen, der sie mit Mayonnaise und Geschmacksverstärkern zuballern würde, aber das ganze Zeugs könne man ja im gehen verputzen. Und mit solcher Ernährungsunkultur wolle er sich nun mal nicht gemein machen und daher wären die Aussichten zur Zeit nicht rosig. Sagt es und seufzt in Richtung der Blutwurst, die mich sehr an eine gute Boudin erinnert, wobei mir einfällt, Roland nach einem Rezept zu befragen, schließlich hat er so eine französische Wurst neulich erst gemacht, sehr delikat.

... und bei Nacht

Ich verabschiede mich fürs erste von dem traurigen Metzger und gehe mit finsteren Gedanken über das amerikanische Fast-Food-Komplott von dannen. Es ist schon bald vier und fängt am dunkeln. Zu Hause angekommen, stelle ich mich wieder ans Fenster. Die Jägerklause gegenüber illuminiert sich. Mit einem großen Glas Sprudel in der Hand genieße ich den Blick auf meine Kreuzung.