Gerade noch lese ich in meiner Klolektüre (Bergs „Gerichtliche Medizin“, Seite 172, Ätzalkalien) und schon geht die Kanzlerin mit Brille zur Neujahrsansprache über. Nix wirklich Neues; im Wesentlichen formuliert sie sowas wie die deutsche Monroe-Doktrin: Die soziale Marktwirtschaft soll mal wieder die Welt beeindrucken und Letztendes retten. Billige Worte!
Dafür bin ich von den Berlinern richtiggehend gerührt. Sie spielen im Maßstab 1:1 den für sie so tragischen April ´45 nach. Nur für mich, den Neuen. Dabei folgen sie einer perfiden Choreografie. Zuerst dumpfes Grollen in der Ferne, nur gelegentlich ein Lichtblitz, gefolgt von blökendem Krachen. Ab und zu imitiert ein sogenannter Heuler eine sowjetische Katyuscha. Die wackeren Temperaturen von etwa -9° C halte ich allerdings für nicht original und etwas übertrieben.
Zusehends kommt der Iwan näher. In öffentliche Müllbehälter deponierte Böller zeugen davon. Wahrscheinlich eine impressionistische Ausformung der gemeinen Tretmine. Matten von Zisimännern simulieren die berühmte AK 47. In Lichtenberg dröhnen bereits die Haubitzen. Derbe China-Böller gleichen fiesen Schrapnellen. Polizei, Feuerwehr und Rettungswagen der nur einen Block weiter gelegenen Wache 58 mischen munter mit. Ständiges Blaulicht und Sirenengeheul geben dem Ganzen erst die richtige Würze. Es sind wohl die zahllosen Granateinschläge, welche unsere unermüdlichen Rettungskräfte zermürben. Ich hingegen, in meinem sicheren Ausguck im vierten Stock, sozusagen die Insel der Seligen, genieße den Krawall. Nur um nicht die Bodenhaftung zu verlieren, läuft im Hintergrund noch Harald Juhnke. So ein Fest ist ohne den großen Berliner Schluckspecht doch nix.
Gen Mitternacht steigert sich der große vaterländische Krieg in einen nie da gewesenen Furor! Hell erleuchtet sich der Himmel, in allen verderblichen Farben des Weltendes. Einige Subjekte, es sind wohl Fundamentalisten, höre ich wie Tiere brüllen: „Endlich Armageddon!!!“ Einer brennt vom Schopfe her wie echt. Ob das Goebbels darstellen soll? Man weiß es nicht. Sowieso wird der Pulverdampf dichter, der ehedem klare Himmel ist nicht mehr recht zu erkennen, meine kleine Kreuzung eingenebelt.
Dennoch erkenne ich tapfere Darsteller, die ihre Raketen aus der Hand abfeuern, damit sie die Straße auf gesamter Länge mit in den ‚Untergang‘ reißen. Besonders die der Wunderwaffe V2 nachempfundenen brennenden Flugtuben überzeugen durch einen ohrenbetäubenden Krach am Ende ihres kurzen Daseins. Der Altbau Gubener Ecke Grünberger mutiert zum Reichstag. Auf dem Dach sehe ich einige Elemente mit einer Fahne hantieren. Das eigentlich Tolle an dem ganzen Spektakel ist aber, daß alles heil bleibt.
Irgendwann aber wird mir das Schauspiel aber doch etwas lang und ich lege mich, ein wenig ermattet, hin. Müdigkeit überkommt mich, die unbändigen Biere fordern auch ihren Tribut und beim hinüberdämmern frage ich mich noch, wer das alles putzen soll und wie sie das ´45 aushielten. Das hat doch noch wesentlich länger gedauert.
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