An der Leipziger Straße im Bezirk Mitte steht seit den frühen 70er Jahren ein veritables Ensemble von Plattenbauten. Dieses gilt seit seiner Errichtung als sozialistisches Pendant zum Axel-Springer-Haus im Bezirk Kreuzberg. Die besonders hohen Bauten sollten dazu dienen, das dicht an der dort nahe verlaufenden Mauer gebaute Hochhaus des westdeutschen Hetzjournalisten zu verdecken.
Als diese bis zu 25 Stockwerke umfassenden Gebäude nun endlich standen, sah sich das Politbüro mit der Herausforderung konfrontiert, wie denn die vielen schönen Wohnungen zu besiedeln seien, da sie doch nun wirklich, wirklich nah am Antifaschistischen Schutzwall stünden. Da könne doch ein Jeder … Republikflucht … lediglich ein Regenschirm … politisch zuverlässige Kader … Mielke fragen … kurzum wurde der gesamte Komplex mit Stasi-Mitarbeitern bevölkert. Da musste man denn den Erwerb von Schirmen nicht unter Bezugsschein stellen.
Gestern dann fahre ich mit Roland vor die Leipziger 47, um aus dem 22. Stock aus einer in Renovierung befindlichen Wohnung Abbruchmüll zu entsorgen. Eine kleine Freundlichkeit unsererseits, die aber auch dem geschundenen Beutel zugute kommt. Auch schon vor dem Hause sind zwo Araber zugange und beladen ihr Fzg mit Brocken, wohl ein Umzug. Wir begrüßen uns freundlich, ein Blick auf das üppige Klingelbrett zeigt mir, daß sich die Bewohnerschar mittlerweile durchmischt hat. Schließlich leben auch Stasi-Majore nicht ewig, und an einen IM-Üzlan glaube ich nicht.
Als nächstes begrüßen wir den Hausmeister, ein grenzbegabter Endzwanziger in Wachschutzausstattung mit sehr, sehr, sehr, sehr kurzen Haaren, wenn überhaupt. Bereits Tags zuvor hat Roland ihn mit einem Zwanni gefügig gemacht, und ich sehe seinem Gesichtsausdruck an, daß das an ihm nagt: Den Konflikt, uns einerseits barsch schurigeln zu wollen, andererseits durch den Erhalt eines halben Monatslohnes Valuta wenigstens sachlich sein zu müssen, tragen seine glasigen grauen Augen zuckend an den Tag. Doch wir besprechen wohlgemut die Übergabe des Schlüssels für den Lastenaufzug, den zurzeit noch die beiden arabischen Speditionsfacharbeiter benutzen. Dann machen wir uns frisch ans Werk.
Oben angekommen gibt es zuerst einmal einen atemberaubenden Blick in die Berliner Diesigkeit, dann schlörren wir schon mal den Plunder zum Lift, hie und da kann auch schon was runter, wobei wir immer wieder Personen im Rentenalter begegnen, die heute noch so angezogen sind wie es Mitarbeiter einer staatlichen Sicherheitsberatung eben wären. Die meisten grüßen nicht mal. Dafür blicken sie verstohlen aus den Augenwinkeln, daß man es kaum merken soll. Obwohl ich mich sicher fühlen kann, schauert es mich etwas. Ein Blick auf die Stockwerksknöpfe im Inneren der Aufzüge macht mir auch nicht wohler: Es gibt kein Zweites. Roland meint nur: Abteilung Abhören und Folter!
Als ich die Araber treffe, bin ich irgendwie erleichtert, frage gar nach, wem sie denn hier helfen. „Ist arabischer Arzt. Hat hier studiert. Jetzt geht wieder nach Hause, hilft seine Leute.“ ‚Aha‘, denke ich, sind wohl echt nicht mehr alles nur solche und frage woher denn der gute Arzt stamme. „Libyen.“, ist die einsilbige Antwort, und die bloße Erwähnung setzt meine Phantasie schon wieder in Gang.
Lieber nicht nachdenken, sage ich mir. Rasch mache ich mich wieder an die Arbeit. Mittlerweile haben wir den Lastenaufzug für uns, alles geht flott von der Hand. Innerhalb einer weiteren ¾ Stunde ist die Bude leer, der Wagen voll. Der sogenannte Hausmeister, dem wir am Ende den Schlüssel für den Aufzug wiedergeben wollen ist nicht am Platz. Ist er im ominösen zweiten Stock? Keinen Schimmer. Wir wollen jedenfalls weiter. Roland entschließt sich zu dem libyschen Arzt im 11. zu fahren und ihm den Schlüssel zu hinterlassen. Der Doktor ist kooperativ und freundlich verabschieden wir uns von einander. Im EG treffen wir doch noch den Wachhabenden und unterrichten ihn von der Schlüsselübergabe. Und dann sagt dieses Subjekt doch tatsächlich: „Weeß ick doch. Ick hab doch überall Kameras.“
Das muß ein Mann erstmal verdauen! Bloß schnell weg. Roland zündet sich im Auto zitternd eine Kippe an, mich zerreißt es eher innerlich. Brrrr!
Auf dem Weg zur Recyclingstation passieren wir den Hermannplatz. An einer Ampel müssen wir warten und direkt vor uns überquert ein Endfünfziger die Straße, bekleidet mit einem dunklen Lederblouson und schwarzer Baumwolljogginghose, die er naßforsch in die schwarzen Socken gesteckt hat, die wiederum von rotbraunen Slippern umschmeichelt werden. Wir müssen beide herzhaft lachen, was uns endgültig erleichtert. Wir wissen, daß wir wieder im Westen sind. Hier kann uns nichts mehr passieren!
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