Noch stehe ich halb unter dem Eindruck der Ereignisse der letzten Nacht. Noch umwabern mich Reste eines heimtückischen Promills, welches mich und meine beiden Begleiter Matthias und Henning, irgendwann auf halber Strecke angefallen haben muß. Keiner weiß mehr genau, wie es dazu kommen konnte. Eigentlich wollten wir doch nur einen Teil der Stadt erkunden, hier eine Bar aufsuchen, dort eine noch intakte Gardinenkneipe entdecken und immer offen für die legendäre Einraumgaststätte. Ist doch eigentlich ganz harmlos, auch wenn kleingeistige Gemüter einwenden mögen, daß solch eine Unternehmung durchaus riskant sein kann und i.d.R. schon mit Katzenjammer belohnt wird. Geschenkt! Übler ist’s für den Chronisten, am nächsten Morgen tatsächlich Erlebtes vom Gespinst zu scheiden. Wie gut, daß ich Notizen gemacht habe, an denen ich mein lückenhaftes Gedächtnis aufrichten kann:
20 Uhr - „Alkopole“ Bierbar – Alexanderplatz - Mitte
Der verabredete Treffpunkt ist zu früher Stunde bereits umtost. Der Bahnhof ist ja an Wochenendabenden sowieso immer ein beliebter Treff für junge Leute. Jetzt werden sie noch von Hertha-Fans und einigen Frankfurtern in ihrem Gewimmel geholfen. Es wird krakeelt wie nix Gutes. Als ich die Bar betrete auch hier großes Bohei. Ich werde sofort und durchaus wohlwollend von einer schottischen Kleingruppe fortgeschrittenen Alters mit einer Mischung aus Lallen und Kreischen angeredet. Ich verstehe aber kein Wort. Liegt sicher auch an den alternden Hools in der anderen Ecke des Kleinstlokals und der schlimmen Schlagermucke vom Band. Fast schon bereue ich unser Vorhaben, doch bevor ich mir weitere Sorgen machen kann fällt mein Blick auf eine 70-jährge Blondine mit erstaunlichem Dekolleté, die von den Schotten ein ums andere Mal eingeladen wird und sich mit Kusshändchen bedankt.
Nach und nach trudeln Henning und Matthias ein, wir trinken zum Start schon mal ein Glas Bier; die Gelegenheit scheint günstig. Dabei zollen wir dem Lallzustand der Gäste zu diesem frühen Zeitpunkt Respekt. Besonders die schottische Reisegruppe imponiert immer aufs Neue. Herausragend ist hier ein etwa 60-jähriger mit rotem Pulli. Er spricht eindeutig am lautesten und undeutlichsten. Als er sich mal wieder mit napoleonischer Geste und unsauberem Sprachduktus meldet, versagen ihm die Knie den Dienst. Mit erhobenem Arm und einem kleinen Bäuerchen sinkt er hin. Dabei wird er fürsorglich von seinen Kumpanen gestützt. Selten habe ich einen so tadellosen und würdevollen Knockout gesehen. Man könnte meinen, dem exemplarischen Niedergang eines Weltreichs beizuwohnen.
Für den Anfang ist das nicht übel, aber wir müssen weiter. Wir zahlen und im Hinausgehen fällt mir noch ein so typisches Schild auf, mit dem Kneipenweisheit vorgetragen wird. Doch ist es hier ein Satz des Philosophen Baruch Spinoza: „Glauben ist leichter als denken.“ Alle Wetter! An diesem Ort!
21.05 Uhr – „Hans Scharoun Bar“ – Fasanenstr. – Wilmersdorf
Dieses kleine Schmuckstück war Matthias‘ Idee. Man betritt das Lokal durch die Räume einer kleinen Kunstgalerie. Von außen deutet nichts darauf hin, daß es hier gastlich wird. Es gibt keine Werbung und nichts. Man muß wissen, wo es ist. Das hat natürlich etwas Elitäres und schmeichelt dem Besucher von vornherein, von wegen geheimer Zirkel und so. Die Einrichtung des einzigen Raums hat in den 50er Jahren der berühmte Architekt für den damaligen Besitzer, einen dunkelhäutigen GI, der wegen der Liebe in Berlin blieb, im Stile einer zeitgenössischen Kellerbar eingerichtet.
Wir sind die ersten Gäste, trinken brav Bier, lauschen der distinguierten Jazzmusik und unterhalten uns über Fußball. Kein Thema, das hier besonders goutiert wird, wie wir meinen, an den Gesichtern der mittlerweile eintrudelnden protestantischen Wohlstandssnobs ablesen zu können. Eine trudelnde Partystimmung ist hier in den nächsten sechs Stunden nicht zu erwarten, die puffige Plüschigkeit des Interieurs ist aufgesogen, also gehen wir das nächste Ziel an, diesmal meine Idee, die „Giraffe“ im Hansaviertel. Allerdings erweist sich der Weg dahin als halbe Odyssee mit einem Abstecher zum Wittenbergplatz, wo Matthias sich noch Geld zieht, um dann großkotzig Ortskenntnis zu simulieren, ohne eigentlich zu wissen, wo genau das Etablissement sich befindet. Mein diesbezügliches Gemecker nutzt er, mir schlechte Recherche vorzuwerfen und somit alle Schuld von sich zu weisen. Immerhin erschauen wir auf dem Weg die spanische Botschaft und können wegen des gefallenen Schnees etwas im ansonsten finsteren Tiergarten etwas sehen.
23.26 Uhr – „Giraffe“ – Klopstockstr. – Tiergarten
Bei der Ankunft sind alle Animositäten rasch vergessen. Die mittlerweile grimme Kälte hat den fast einstündigen Gang zur Strapaze werden lassen und so verheißen die braun-gelben Lichter einer Giraffe auf der Außenwand uns Wärme und Behaglichkeit. Im Erdgeschoß eines Hochhauses der Interbau 1957 liegt die leider mittlerweile modernisierte Gaststätte. Man hat aber immerhin versucht, wenigstens an einigen Stellen, den Charakter des Einweihungsjahres zu erhalten. Der Tresen ist gelb geklinkert, an der Wand dahinter ein Mosaik in Giraffenform, doch leider überwiegt 90er Zweckmöbel die Szene. Leider ist auch sonst wenig los und das am Samstagabend. Also ein Bier und weiter, jetze Richtung Kreuzberg. Zu „Molly Luft“, dem Hörensagen nach die Kneipe einer gleichnamigen, alten, abgewrackten Fettel, die sich nach der Wende wohl einigen Meriten im Extrempornobereich erworben hat.
Leider werden die Temperaturen immer schneidender, und Henning fängt das Jammern an, was Matthias zu aufmunternden Kritik veranlasst („Mit so Studenten nicht nochmal“). Dummerweise hat Molly ihre Pornobude dicht gemacht und so nehmen wir die erstbeste Kneipe, die uns unterkommt.
0.41 Uhr – unbekannte Spelunke – Urbanstr. - Kreuzberg 61
Echte Gardinenkneipe! Den Namen habe ich mir vor Schreck nicht merken können. Beim Eintreten schon werden wir von einem Tresenbeisser mit einem zugekniffenen Auge bei zurückgenommenem Oberkörper taxiert. Er hält uns wohl für korrekt, wir bestellen drei Biere bei dem freundlichen Kneipier und durchqueren die 8 m² Schankraum ins Dartzimmer, wo wir sogleich von einem äußerlich gepflegten, aber charakterlich zweifelhaften und stark angetrunkenen Subjekt von ca. 55 Jahren mit einer schäbigen Zote begrüßt werden. Da er aber nebenbei mit seiner Ollen und einem dicken Kumpel Darts spielen muß, können wir uns fürs Erste untereinander austauschen. Die frühen „Tatort“-Folgen um Zollfahnder Kressin sind ein Thema, auch Pornografie im Internet, siehe Molly Luft, und Matthias streut ein Zwischenfazit: „Das pornografische Internet zerstört doch alle Erzählstrukturen.“ Was ein Hammer! Das denkt sich wohl auch die Nervensäge vom Dartstand und drängt sich jovial an unseren Tisch, gefolgt von seiner Matrone, die beide auffällig oft fragen, wo wir denn unsere Frauen hätten. Als er dann noch eine Anspielung auf Mattias‘ Ohrringe raushaut, fällt der Groschen. Sie glauben sich wohl drei perversen Schwulen auf der Spur, die bedauerlicherweise nichts von Mollys neuen Kneipenplänen wissen.
Henning ist mittlerweile still geworden. Er rollt nur noch mit den Augen. Ich muß mal austreten, der holde Gerstensaft drückt auf die Blase. Auf der Herrentoilette dann eine Waschmaschine, mit dem Ablaufrüssel im Waschbecken. Faszinierend! Als ich an den Tisch zurückkehre ist man schon bei ganz anderen Themen. Ob wir nicht einen Kaminbauer kennen, der einem so ein Ding ins Wohnzimmer baut. Begleitet wird der Vortrag von der Schabracke mit technisch hochwertigen Details („Wir ham ja allet aus Asbest, da müsste dann schon ein Kamin rinne, wär ja gut oder vielleicht geht det ja ooch mit’n Alurorhr…“). Heilige Scheiße! Und zwischendrin immer wieder Fragen nach unseren Frauen und dieses typische suffige entschuldigen von minder selbstsicheren Trunkenbolden.
Dennoch verabschieden wir uns herzlich, nicht zuletzt von dem zuvorkommenden Wirt, der zwischenzeitlich gar anbot, unsere Kletten rauszuschmeißen.
Auf der Straße herrscht munteres Schneetreiben. Dicke Flocken wirbeln uns um die Fressen. Der Wind kommt von vorn und hat eine Eisigkeit, die schmerzt. Gut, daß es zum Kottbusser Tor nicht sehr weit ist.
2.32 Uhr – „Möbel Olfe“ – Kottbusser Tor – Kreuzberg 36
Das ehemalige Möbelhaus empfängt uns am hässlichsten Platz der Welt im Erdgeschoß einer 70er Jahre Westplatte mit Ausblick auf Lieferanteneingänge und Schuttcontainer. Heimeliges Gitarrengeschrömmel und rotziges Personalgebaren im Dekor nackten Schalbetons lassen mich zeitreisen. Aus dem Hahn läuft goldenes „Zywiec“-Bier. Wir lassen es uns gut gehen, müssen aber auch die letzte Lokalität erstmal therapeutisch verarbeiten. Gelingt ganz prächtig, da wir mit Leichtigkeit unsere Einschätzung der Lage in einen komischen Kontext überführen können.
Draußen fällt derweil wieder Schnee, einige Jugendliche machen sich an dem Container zu schaffen, andere randalieren ziellos. Doch all diese versammelten Attribute der 80er lassen nicht darüber hinwegsehen, daß auch unsere geliebte Hauptstadt radikal modernisiert wird und dabei erst ihren einzigartigen Charme verliert und dann in Folge auch all ihren Glamour und ihre Einzigartigkeit. Etwas trüb stieren wir auf unsere Biere, gewiss, einem unaufhaltsamen Prozess deutscher Verordentlichung beizuwohnen. Bevor wir aber gemeinsam Seppuku begehen, muß noch ein letztes Mal der Ort gewechselt werden.
3.27 Uhr – „Würgeengel“ – Dresdener Str. – Kreuzberg 36
Ein wenig widerstrebend läßt man uns ein. Es sei schon spät, aber na gut, auf ein Getränk, das ginge wohl. Wir versprechen hoch und heilig folgsam zu sein. Offenbar ist das Promill bereits tief in uns eingedrungen und der Rubikon ist überschritten. Jetzt wird es schwierig aufzuhören. Aber wir bleiben immerhin beim Bier, Schnaps wäre jetzt fatal.
Die beschlipsten Fachkräfte bewegen sich elegant hinter dem Tresen ihrer Art-Deco Bar, davor hocken nicht mehr viele Nachteulen. Während unserem immer noch angeregten Gesprächen beobachten wir zwei persische Schnullerbacken, die sich an zwo Frauen ranmachen, die eine ‚Blondes Gift‘, die andere etwas hausbacken. Wie zu erwarten, macht der hübschere Jüngling die Eröffnung auf die Blondine, während sein leicht steifhüftiger Kollege die andere Dame ablenken muß. Sehr geschickt stellen sie sich alle nicht an, aber wer weiß schon, was sie im Einzelnen für Ziele verfolgen.
Wir bekommen ohne Probleme noch mehr Bier und verfolgen die Rituale wie Wetter auf der Rennbahn, und ich steuere gewohnt großspurig Erlebnisse aus der eigenen Jugend bei, höre mir die Ausführungen meiner Freunde an. Matthias fühle ich mich gar bemüßigt, einen Tausendsassa zu nennen, was dieser mit Bescheidenheit kontert („Ich war zeitlebens nur ein Hundertsassa.“).
Um 4.29 überlassen wir das Personal und den flotten Vierer ihrem grauen Schicksal. Wir nähern uns dem Zustand, wo sich jeder selbst der Nächste ist, da kann man sich nicht noch um fremder Leute Liebesdinge kümmern. Außerdem muß ich gefühlt alle 8 Minuten pissen. Es ist wirklich an der Zeit, Vernunft walten zu lassen. Also gehen wir zum U-Bahnhof Kottbusser Tor. Daß der Kiosk dort unten noch auf hat, läßt uns die Euphorie in Raserei verfallen. Freudig erregt besorgt sich Matthias noch ein Fahrbier, Henning einen Schokoriegel und ich einen klitzekleinen medizinischen Wodka. Schließlich ist es kalt.
Am Alex, wo immer noch viele Menschen sind, nun aber deutlich angeschlagener, verabschieden wir uns beglückwünschend, wobei wir insgeheim schon das Ziel einer nächsten Schundnacht ausmachen: Moabit und/oder Wedding!
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