Jetzt isses passiert! Berlin reißt seine Fenster uff, läßt leichte Musik nach draußen schallen, reißt sich die Plünnen vom Kalkweißen Leib und übt Italien im Café. Alles nur, weil die Sonne scheint. Und 12° ist. Gefühlt 34. Dazu wird gelächelt als gäb’s kein Morgen. Mit einem Mal ist aller Frost vergessen, Depressionen werden vertagt bis nächsten Winter. Nichts erinnert mehr an des Daseins Vergänglichkeit, alles ist nur noch Jux und ‚Leben – Leben – Leben‘. Der Frühling ist ausgebrochen. Schlechte Zeiten für Misanthropen.
Wie gut, daß Roland anruft und guten Rat verbreitet: „Komm, wir fahren nach Stahnsdorf. Da gibt’s einen riesigen Friedhof!“ Super! Das scheint mir die Lösung. Bestimmt kann man dort einen solchen Tag in Ruhe genießen, während das irre Hauptstadtvolk sich in eitlem Getue auf sonnenbeschienenen Plätzen fläzt. Wir werden beide nicht enttäuscht.
Der Südwestfriedhof vor den Toren der Stadt wurde 1909 angelegt, als sich eine Verknappung der zur Verfügung stehenden Begräbnisfläche abzeichnete. Nach dem dann üblichen Getue und anschließender Bebauung hatte man 28.3.1909 einen schönen neuen Gottesacker. Nach Ohlsdorf der zweitgrößte in Europa. Mit eigenem S-Bahn Anschluß. Quasi hochmodern. Und da man seinerzeit den bedeutenden Garteningenieur Louis Mayer mit der Gestaltung beauftragt hatte, ist er auch 100 Jahre und 3 Tage nach seiner Eröffnung ein sehr gelungenes Ensemble von pflanzlichem Wuchs und rottendem Gebein.
Wie sich das für so ein großes Gelände gehört findet sich neben Toten wie Du und ich auch jede Menge berühmtes Volk und was sich dafür gehalten haben mag. Das sind dann wohl die, welche sich ihren Status gleich mit in Stein haben meißeln lassen, z.B. Philatelist, Wirklich Geheimer Rat oder, wie unser guter Freund von Levetzow gleich alle seine je angehäuften Ämter.
Immer erstaunlich, wer so alles Gott für sich reklamiert
Interessant ist auch die lange Reihe großer Familiengruften mit pompöser Besteinung, die gern von dem ein oder anderen Mausoleum, etwa Langenscheidts, aufgelockert wird. Oft fehlen jedoch metallene Buchstaben oder gar ganze Eisenplaketten. Ob sie die Beute von Rohstoffdieben geworden sind?
Eine geöffnete Tür hat immer etwas einladendes
Wir wissen es nicht, gehen weiter, schauen hierhin und dorthin, entdecken Kurioses und Anrührendes. Roland trägt en Gedicht von Traxler vor, das überhaupt nicht passt, aber famos zur Erheiterung beiträgt.
Lebensbejahende Grabgestaltung von Max Taut
Nach stattlichen zwo Stunden Entdeckungstour kommen wir bei der im norwegischen Stil erbauten Kapelle an, die locker die Größe einer Kleinstadtkirche hat. Auf dem ausgestellten Plan erkennen wir, daß wir gerade mal ein Drittel geschafft haben, den schwedischen Teil mit seinen tackernden Spechten nur gestreift und die italienischen und britischen Soldaten gar nicht besucht haben. Auch so wohlklingende Bereiche wie ‚Gustav-Adolf‘ oder ‚Neue Umbettung‘ verschieben wir auf das nächste Mal. Ein wenig fußlahm schleppen wir uns zum Elch und gondeln gemütlich zurück in Richtung Zehlendorf.
Weil es aber noch so früh ist, die Gelegenheit günstig und der Hafer noch doch endlich sticht, gehen wir aufs Ganze und bahnen uns den Weg in den Grunewald zum kleinen, feinen Grunewalder-Forst-Friedhof, auch Selbstmörderfriedhof genannt. Es sind hier aber nicht nur Verzweifelte zur letzten Ruhe gebettet und eigentlich wollen wir nur einen kurzen Blick auf Nicos Grab werfen. Bis wir es gefunden haben können wir aber einige interessante Steine sehen, auf denen kein Name steht, nur Papa oder Mama oder beides.
Wir finden noch das kleine unscheinbare Feld der ehemaligen Velvet Underground Sängerin und ihrer Mutter. Es sind einige handfeste Beigaben um den Stein drapiert, wie Bier und kleine Schnapsbuddeln, und in den umstehenden Zweigen hängen kryptische Gedichte von Fans, die, so scheint’s, auch ganz schön auf Droge sind. Abschließend genießen wir noch einmal die Stille. Dann schemmen wir gemütlich heim. Und Friedrichshain ist voller Blagen. Ach ja, ewges Werden und Vergehen.
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